Ärzteschaft

Montag, 22. Juni 2020

Berlin – Nachdem die Ausbreitung von COVID-19-Infektionen erfolgreich eingedämmt werden konnte, treten in der gesellschaftlichen Debatte nun die wirtschaftlichen und so­zialen Sorgen der Bevölkerung stärker in den Vordergrund.

„Dabei kann ein Stimmungswandel drohen, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die aktive Mitarbeit der Bevölkerung an den weiterhin erforderlichen Maßnahmen zur Krisenbewältigung erschweren kann“, schreiben vier Psychologie-Organisationen in einem Konzeptpapier. Ernste Warnsignale seien das Auftreten von Verschwörungser­zäh­lungen und Sorglosigkeit im Umgang mit der Ansteckungsgefahr.

In dem Papier machen der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP), die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs), die Bundespsychotherapeu­ten­kammer (BPtK) und das Leibniz-Zentrum für Psychologische Information und Dokumenta­tion (ZPID) Vorschläge, wie die notwendigen, pandemiebezogenen Verhaltensänderungen auch weiterhin gelingen könnten.

Für die Kernthemen Stimmungswandel, Schutzverhalten, psychische Folgen und gesell­schaftlicher Zusammenhalt benennen die Experten zentrale Herausforderungen und schlagen konkrete Maßnahmen vor.

Gerade im Hinblick auf eine mögliche zweite Welle der COVID-19-Pandemie stelle die Akzeptanz in der Bevölkerung für weitere Einschränkungen eine Herausforderung dar. „Hier spielt die Psychologie eine bedeutsame Rolle: sie liefert Hinweise, welche Maßnah­men angemessen eingesetzt und wie sie nachvollziehbar kommuniziert werden können“, schreiben die Organisationen.

Längerfristig deutlicher Anstieg psychischer Probleme

Hinsichtlich der psychischen Folgen zeigen, den Experten zufolge, Erfahrungen aus früh­e­ren Krisen, dass es zwar kurzfristig zu einem Rückgang von Ängsten, Depressionen und Suizidraten kommen kann, dass aber mittel- und längerfristig mit einem deutlichen An­stieg psychischer Probleme zu rechnen ist.

Dieser Effekt werde auch über negative sozioökonomische Folgen vermittelt und betreffe entsprechend verschiedene Segmente der Bevölkerung unterschiedlich stark.

„Die gesundheitlichen Auswirkungen der sozioökonomischen Folgen sind wiederum stark von der psychischen Verarbeitung der Belastungserfahrungen abhängig. Dabei spielen wahrgenommene Kontrollierbarkeit und Vorhersagbarkeit eine entscheidende Rolle“, heißt es in dem Konzeptpapier.

Besonders stark betroffen seien Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status, aber auch Alleinerziehende. Dabei bestehe die Gefahr der Verfestigung dysfunktionaler Einstellungen zu den eigenen Lebenschancen und zur Gerechtigkeit der Gesellschaft („Lo­wer Class Mindset”), die zudem über die Generationengrenzen hinweg weitergegeben werden könnten.

Um die Wirksamkeit der Maßnahmen beurteilen zu können, sind Informationen über die psychische Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland notwendig. „Doch gerade an dieser Datengrundlage mangelt es“, kritisieren die Organisationen. Sie schlagen deshalb vor, bestehende repräsentative Erhebungsinfrastrukturen für die Psychologie zu öffnen und langfristig zu sichern. © PB/aerzteblatt.de