Politik

Mittwoch, 3. Juli 2019

BGH-Außenstelle in Leipzig /picture alliance/Hendrik Schmidt

Leipzig – Ärzte sind nicht verpflichtet, Patienten nach einem Suizidversuch gegen deren Willen das Leben zu retten. Das hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) heute in Leipzig entschieden (Az.: 5 StR 132/18 und 5 StR 393/18). Der BGH bestätigte damit zwei Freisprü­che der Landgerichte in Berlin und Hamburg und ver­warf die Revisionen der beiden Staatsanwaltschaften.

„In beiden Fällen haben die Landgerichte rechtsfehlerfrei keine die Eigen­ver­anwort­lich­keit der Suizidentinnen einschränkenden Umstände festgestellt“, schreibt der BGH. Die Gerichte hatten ent­schieden, dass der Wille der Patienten zählt. Die Urteile des Landgerichts Hamburg und des Landgerichts Berlin sind damit rechtskräftig.

Wie der BGH heute begründete, hätte eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der Ärzte für ihre im Vorfeld geleisteten Beiträge zu den Suiziden vorausgesetzt, dass die Frau­en nicht in der Lage gewesen wären, einen freiverantwortlichen Selbsttötungswillen zu bilden. Deren Sterbewünsche hätten aber auf einer im Laufe der Zeit entwickel­ten, bilanzierenden „Lebensmüdigkeit“ beruht und seien nicht das Ergebnis psychi­scher Störungen gewe­sen.

Dem 5. Senat zufolge wurde eine in Unglücksfällen jedermann obliegenden Hilfspflicht nach § 323c StGB „nicht in strafbarer Weise“ verletzt. Da die Suizide, wie die Ärzte ge­wusst hätten, sich jeweils als Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der sterbewilligen Frauen darstellten, seien „Rettungsmaßnahmen entgegen deren Willen nicht geboten“ gewesen. Die beiden Ärzte seien nach Eintritt der Be­wusst­losigkeit der Suiziden­tin­nen nicht zur Rettung ihrer Leben verpflichtet gewesen.

Keine Klärung der aktuellen Gesetzeslage

Der BGH erklärte aber auch, dass man die Fälle nicht am Straftatbestand der heutzu­tage geltenden geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) habe messen können. Dieses sei rückwirkend nicht anzuwenden. Das Gesetz sei zur damaligen Zeit nicht in Kraft gewesen. Dass die Ärzte mit der jeweiligen Leistung von Hilfe zur Selbsttötung „möglicherweise ärztliche Berufspflichten verletzt“ hätten, sei für die Strafbarkeit ihres Verhaltens im Ergebnis „nicht von Relevanz“, so der BGH.

Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland nicht erlaubt. Seit 2015 gilt zudem das Verbot der „geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“. Dieses zielt auf Sterbehilfe als Ge­schäftsmodell organisierter Vereine. Gegen das Verbot haben schwerkranke Men­schen, einige Ärzte und Sterbehilfevereine beim Bundesverfassungsgericht geklagt. Eine Entscheidung in Karlsruhe wird im Herbst erwartet. Weil die vom BGH behan­delten Fälle älter waren, spielte das Gesetz keine Rolle in den jetzt entschiedenen Verfahren.

Freiwillige Entscheidung der Sterbewilligen

Das Landgericht Hamburg und das Landgericht Berlin hatten jeweils einen angeklag­ten Arzt von dem Vorwurf freigesprochen, sich in den Jahren 2012 und 2013 durch die Unterstützung von Selbsttötungen sowie das Unterlassen von Maßnahmen zur Rettung der bewusstlosen Suizidentinnen wegen Tötungsdelikten und unterlassener Hilfeleistung strafbar gemacht zu haben.

Nach den Feststellungen im Urteil des Landgerichts Hamburg litten die beiden mitein­ander befreundeten, 85 und 81 Jahre alten suizidwilligen Frauen an mehreren nicht lebensbedrohlichen, aber ihre Lebensqualität und persönlichen Handlungsmöglich­kei­ten zunehmend einschränkenden Krankheiten. Sie wandten sich an einen Sterbehilfe­verein, der seine Unterstützung bei ihrer Selbsttötung von der Erstattung eines neuro­logisch-psychiatrischen Gutachtens zu ihrer Einsichts- und Urteilsfähigkeit abhängig machte.

Dieses erstellte der Angeklagte, ein Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Er hatte an der Festigkeit und Wohlerwogenheit der Suizidwünsche keine Zweifel. Auf Verlan­gen der beiden Frauen wohnte der angeklagte Arzt der Einnahme der tödlich wirken­den Medikamente bei und unterließ es auf ihren ausdrücklichen Wunsch, nach Eintritt ihrer Bewusstlosigkeit Rettungsmaßnahmen einzuleiten.

Im Berliner Fall hatte ein angeklagter Hausarzt einer Patientin Zugang zu einem in hoher Dosierung tödlich wirkenden Medikament verschafft. Die 44-jährige Frau litt seit ihrer Jugend an einer nicht lebensbedrohlichen, aber starke krampfartige Schmerzen verursachenden Erkrankung und hatte den Angeklagten – nachdem sie bereits meh­re­re Selbsttötungsversuche unternommen hatte – um Hilfe beim Sterben gebeten. Der Angeklagte betreute die nach Einnahme des Medikaments Bewusstlose – wie von ihr zuvor gewünscht – während ihres zweieinhalb Tage dauernden Sterbens. Hilfe zur Rettung ihres Lebens leistete er nicht.

Die Reaktionen zu dem Urteil fielen heute unterschiedlich aus. Die Bundesärzte­kam­mer (BÄK) kündigte an, die rechtlichen Aspekte und Implikationen des Urteils eingehend zu prüfen und gemeinsam mit den Lan­des­ärz­te­kam­mern zu beraten. Das Urteil zeige aber, dass es wichtig gewesen sei, dass der Gesetzgeber 2015 die ge­schäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe gestellt habe.

„Dies gilt insbesondere für den Hamburger Fall aus dem Jahr 2012“, sagte BÄK-Präsi­dent Klaus Reinhardt. So seien beide Suizidentinnen nicht lebensbedrohlich erkrankt gewesen, wären aber von einem Sterbehilfeverein beim Sterben unterstützt worden. Auch im Fall des Landgerichts Berlin habe die suizidwillige Patientin an einer schwe­ren, aber nicht lebensbedrohlichen Erkrankung gelitten. Dennoch habe der angeklagte Hausarzt seiner Patientin Zugang zu einem tödlichen Medikament verschafft.

Reinhardt stellte klar, dass die Beteiligung an Selbsttötungen nicht zu den ärztlichen Aufgaben zählt. Es sei vielmehr Aufgabe von Ärzten, das Leben zu erhalten, Leiden zu lindern und Sterbenden Beistand zu leisten. „Daher sollten ärztliche Handlungen auf eine lebensorientierte Behandlung abzielen und Leiden durch eine geeignete schmerzmedizinische Versorgung lindern“, erklärte er.

Gerade die Palliativmedizin stelle aus seiner Sicht eine „adäquate Form der ärztlichen Sterbebegleitung“ dar. Um genügend Zeit für Zuwendung und seelischen Beistand zu leisten und so Menschen mit schweren Erkrankungen Ängste zu nehmen, müssten die notwendigen Einrichtungen und Strukturen geschaffen werden. „Das ist eine gesamt­gesellschaftliche Aufgabe, der wir uns alle stellen müssen“, so der BÄK-Chef.

Reinhardt bezeichnete es als „fatal“, wenn in der Bevölkerung Erwartungen geweckt würden, die auf einen regelhaften Anspruch auf ärztliche Assistenz beim Suizid ge­richtet seien. „Daher ist und bleibt es richtig, wenn Handlungen zur geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung  strafbar sind“, erklärte er.

Urteil löst keine Probleme

Aus Sicht des Marbur­ger Bundes (MB) löst das Urteil keine Probleme, sondern schafft neue. Der Wider­spruch zu den berufsrechtlichen Pflichten der Ärzte sei „evident“, sagte Rudolf Henke, 1. Vorsitzender des Marburger Bundes. Wenn Ärzte in ihren Grundsätzen von Sterbe­begleitung sprächen, meinten sie Beistand und Fürsorge für Menschen, die den Tod vor Augen haben.

„Sterbebegleitung kann und darf aber keine Hilfe zur Selbsttötung sein“, sagte Henke. Es sei ärztliche Aufgabe, Leben zu erhalten und Leiden zu lindern. Die Mitwirkung an der Selbsttötung sei keine solche ärztliche Aufgabe. „Unsere Berufsordnung lässt da­ran keinen Zweifel: Ärztinnen und Ärzte dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“, sagte er. Henke betonte zudem, dass es Ärzten „nahezu unmöglich“ sei, richtig einzu­schätzen, ob der Sterbewunsch eines Patienten endgültig sei.

Auch Pedram Emami, Präsident der Ärztekammer Hamburg, zeigte sich enttäuscht von dem Urteil. „Es war zwar zu erwarten, dass der BGH den Wunsch des Sterbe­willi­gen an erster Stelle sieht, die Rechtslage war 2012 zudem noch eine andere, aber ich hatte auf ein anderes Ergebnis gehofft“, sagte er.

Der Fall sei für ihn trotz des heutigen Urteils ein Beleg dafür, dass die Änderung des Paragrafen 217 des Strafgesetzbuchs, der die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ seit 2015 verbietet, notwendig und richtig sei, um künftige Fälle wie diesen zu verhindern. Emami wies zugleich darauf hin, dass das Berufsrecht eindeutig sei. „Für Hamburger Ärztinnen und Ärzte gilt Paragraf 16 der Berufsordnung. Sie dür­fen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“, sagte er.

Sterbehilfeverein sieht sich bestätigt

Der Verein Sterbehilfe Deutschland hat die Bestätigung der Freisprüche hingegen be­grüßt. Sie bezeichnete das Leipziger Urteil als eine „für das Selbstbestimmungsrecht epochale Abkehr“ von einer früheren Entscheidung aus dem Jahre 1984. Damals habe der BGH entschieden, dass der Sterbehelfer zur Lebensrettung verpflichtet sei, sobald der Sterbewillige bewusstlos geworden sei.

Aus Sicht der Bundestagsabgeordneten Katrin Helling-Plahr (FDP), Mitglied im Ge­sundheits- und im Rechtsausschuss, stellt der BGH mit dem Urteil fest, dass es „keine Pflicht zur Wiederbelebung“ gibt. Sie sprach von einem wichtigen Referenzurteil. Der BGH rücke den bekundeten Willen der Betroffenen ins Zentrum.

„Selbstbestimmung ist ein zentrales Gut. Das gilt gerade auch am Lebensende. Das rechtliche und moralische Dilemma, vor dem Ärzte angesichts des Sterbewunsches eines Patienten standen und stehen, ist untragbar. Jetzt ist klar, dass der individuelle Patientenwunsch Vorrang genießt“, sagte Helling-Plahr.

Das Urteil gibt aus ihrer Sicht allen Befürwortern einer Liberalisierung der Sterbehilfe Rückenwind. Die FDP fordere seit langem die konsequente Legalisierung der nicht­kommerziellen, also altruistischen Sterbehilfe. „Wir brauchen moderne Regeln, die die Freiheit des Einzelnen ernst nehmen und gleichzeitig Missbrauch ausschließen“, sag­te sie. Nun sei zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht im Herbst durch seine Rechtsprechung den Weg frei mache für eine umfassende Reform der Sterbehilfe.

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