Politik

Dienstag, 27. August 2019

Berlin – Ein breites Bündnis von Akteuren aus der Kinder- und Jugendhilfe, der Medizin, Wissenschaft und Politik hat sich gestern an die Bundespolitik gewandt und gefordert, das Hilfesystem für Kinder und Jugendliche zu reformieren.

Das Bündnis, dem auch der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (bvkj) angehört, kriti­siert, dass trotz der UN-Behindertenrechtskonvention und dem Grundrecht auf Gleichbe­handlung in Deutschland immer noch zwischen „Jugendhilfe“-Kindern und „Eingliede­rungshilfe“-Kindern unterschieden wird.

Junge Menschen ohne Beeinträchtigung oder mit einer seelischen Behinderung erhalten Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilferecht. Dagegen sind junge Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen der Eingliederungshilfe zugeordnet.

Das derzeitige Sozialrecht gliedere auf diese Weise mehr als eine Viertel Million Kinder und Jugendliche mit körperlicher und geistiger Behinderung aus, kritisiert das Bündnis. Diese Kinder und ihre Familien seien nicht in der Zuständigkeit der Kinder- und Jugend­hilfe.

Reform nötig

„Junge Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung werden vom Recht nicht in erster Linie als Kinder oder Jugendliche betrachtet, die in ihrer Familie aufwachsen und deren Entwicklung von vielfältigen Faktoren und nicht nur von ihrer Behinderung beeinflusst wird,“ sagte die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ), Karin Böllert, in Berlin.

Das Recht ordne sie vielmehr wie kleine Erwachsene in das System der Eingliederungs­hilfe ein. Damit erhielten diese jungen Menschen und ihre Familien nicht die Förderung, die sie brauchen würden, was zu Benachteiligungen führe.

„Man kann Menschen nicht einfach in die Schubladen körperliche oder geistige oder seelische Behinderung stecken, da man dies im wirklichen Leben eben oft nicht so sauber trennen kann. Die Beeinträchtigung von Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben resultiert häufig gerade aus der Kombination verschiedener Belastungen“, sagte Jörg Fegert vom Universitätsklinikum Ulm.

Laut dem Bündnis ist es beispielsweise in jeder Hinsicht inakzeptabel, dass das Sozial­recht den jeweiligen IQ-Wert von Kindern und Jugendlichen zum prägenden Merkmal er­hebt und danach die behördliche Zuständigkeit entscheidet. Bei einem Wert von 69 und darunter sei die Eingliederungshilfe, bei einem Wert von 70 und darüber die Kinder‐ und Jugendhilfe zuständig.

„Die Ungleichbehandlung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien ist nach zehn Jahren UN-Behindertenrechtskonvention ein nicht mehr zu rechfertigender Zustand“, kri­tisiert das Bündnis. Es sei jetzt nötig, eine integrative Lösung umzusetzen, durch die alle Kinder und Jugendlichen – mit und ohne Behinderungen beziehungsweise unabhängig von der Art ihrer Behinderung – eine einheitliche gesetzliche Grundlage im Kinder- und Jugendhilferecht finden, so die Forderung.

„Eine Reform des Kinder- und Jugendhilferechts kann nur dann als gelungen bezeichnet werden, wenn die Exklusion von jungen Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen beendet und die Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen gesetzlich gestaltet wird“, hieß es aus dem Bündnis.

Die Niedersächsische Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung, Carola Reimann (SPD) , betonte, dass die Jugendressorts der Landesregierungen aus Baden-Württemberg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen den Appell mitgezeichnet haben. Der Bund müsse das Thema endlich ent­schie­den anpacken und bestehende Diskriminierungen beseitigen, forderte sie. © hil/aerzteblatt.de