von Maximilian Amos

01.10.2019
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Eine Pflegerin spritzte einem Krebspatienten kurz vor dessen Tod eine Überdosis Morphin – entgegen der ärztlichen Verordnung. Das Landgericht verurteilte sie deshalb wegen Körperverletzung, doch der BGH äußert Zweifel.

Wenn Ärzte und Pflegekräfte den Patienten helfen wollen, oftmals aber nicht können und manchmal schon gar nicht dürfen, dann bewegen sie sich im Kontext existenzieller und hochmoralischer Fragen. Immer wieder ringen sie mit Widersprüchen zwischen ihren formellen Pflichten und ihrem eigenen moralischen Kompass.

Dabei geht es um Fragen wie: Wo sind die Grenzen des Mitleids? Wie sehr darf man gegen den Willen von Angehörigen oder gar des Patienten selbst in dessen wohlverstandenem Interesse handeln? In einem kürzlich veröffentlichten Urteil aus Januar dieses Jahres hat der Bundesgerichtshof (BGH) zu diesen Fragen Stellung genommen. Dabei hielt der Senat fest, dass eine moralische Entscheidung zwar richtig oder falsch sein kann. Sie ist aber nicht streng an eine Verantwortungshierarchie gebunden (Urt. v. 30.1.2019, Az. 2 StR 325/17).

Nach seinem vielbeachteten Urteil vom Juli, in dem das Gericht mit seiner Entscheidung zur Unterlassensstrafbarkeit von Ärzten bei freiverantwortlichen Suiziden eine Grundsatzdiskussion klärte und mit der seit Jahrzehnten umstrittenen „Wittig“-Entscheidung aufräumte, blieb dieses jüngste Urteil weitgehend unbeachtet. Dabei geht es auch darin um entscheidende Fragen im Umgang mit schwerkranken und sterbenden Patienten.

Krebspatient verweigert Schmerzmittel

In der Sache ging es um den Vorwurf der vorsätzlichen Körperverletzung durch eine Pflegekraft in einer Seniorenresidenz. Dort war 2016 ein 84 Jahre alter Mann eingezogen, der an Darmkrebs erkrankt war und sich mit diesem bereits im Endstadium befand. Eine weitere Therapie war nicht mehr möglich, es ging nur noch darum, ihm die Leiden bis zum Ende möglichst erträglich zu machen.

Nach seinem Einzug verschlechterte sich sein Zustand und er litt unter starken Schmerzen. Nur einen Monat vor seiner Aufnahme hatte der Mann eine Patientenverfügung aufgesetzt und veranlasst, dass im „unabwendbaren unmittelbaren Sterbeprozess“ aufgrund einer unheilbaren tödlichen Krankheit keine lebensverlängernden Maßnahmen mehr ergriffen werden sollten. Zudem bat er darum, dass ihm „bei Schmerzen, Erstickungsängsten und Atemnot, Übelkeit, Angst sowie anderen qualvollen Zuständen und belastenden Symptomen Medikamente verabreicht werden“, die ihn „von Schmerzen und größerer Belastungen befreien, selbst wenn dadurch“ sein „Tod voraussichtlich früher eintreten“ werde.

Der Mann hatte damit im Grunde schulbuchmäßig für den zu diesem Zeitpunkt eingetretenen Fall vorgesorgt. Doch während sich sein Zustand im Seniorenheim immer weiter verschlechterte und die physischen Qualen schlimmer wurden, begann er stattdessen, Schmerzmittel und Medikamente gegen seine Leiden zu verweigern. Auch die weitere Nahrungsaufnahme und Körperpflege lehnte er oft ab und wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden.

Ärztin verordnet geringe Dosis

Welche Gründe auch immer ihn zu seinem Verhalten bewogen – für die Ärzte und Pflegekräfte stellte das eine Katastrophe dar. Mit dem Wissen, dass ihrem Patienten ein qualvoller Tod bevorstand, mussten sie ihm bei seinem Leiden zusehen. Denn Ärzte können zwar Therapien und Medikamente verordnen, doch eine zwangsweise Verabreichung gegen den freiverantwortlich gebildeten Willen eines Patienten – und komme dieser einem Außenstehenden auch noch so irrational vor – erlaubt das deutsche Medizinrecht nicht. Wer ohne Einwilligung eine schmerzstillende Spritze setzt, begeht mindestens eine Körperverletzung.

Die später angeklagte Pflegerin kümmerte sich in dieser Zeit besonders intensiv um den alten Mann und litt stark darunter, zusehen zu müssen, wie es dem Mann zusehends schlechter ging. Sie bat ihn mehrfach, Schmerzmittel einzunehmen, doch meistens lehnte er ab. Sie machte auch der behandelnden Ärztin Vorwürfe und war der Ansicht, diese tue nicht genügend, um das Leid des Mannes zu lindern.

Eines Tages dann verschlechterte sich sein Gesundheitszustand noch einmal deutlich. Um die Mittagszeit wurde die behandelnde Ärztin herbeigerufen, die eine marmorierte Haut sowie einen veränderten Atemrhythmus feststellte. Die Diagnose, die die Ärztin stellte: der Patient werde die nächste Nacht nicht überleben.

Die Medizinerin sprach daraufhin mit den Angehörigen des Mannes und setzte schließlich alle verordneten Medikamente ab. Sie ordnete an, dass dem – so geht es aus dem Urteil des BGH hervor – inzwischen nicht mehr einwilligungsfähigen Mann nur noch alle vier Stunden fünf Milligramm Morphin injiziert werden sollten, um seine Schmerzen zu lindern. Nach den Feststellungen der Vorinstanz handelt es sich dabei nur um eine relativ geringe Menge, Krebspatienten könnten auch Dosen bis zu 30 Milligramm alle vier bis sechs Stunden verabreicht werden. Das Mittel wirkt nicht nur schmerzlindernd, es beruhigt den Patienten zudem, kann aber auch eine verflachte Atmung bis hin zu Atemaussetzern zur Folge haben.

Pflegerin entgeht Anklage wegen Tötungsdelikt

Wider Erwarten war der Mann am Abend noch nicht verstorben, als die später angeklagte Pflegerin ihre nächste Schicht antrat. Nachdem er zunächst ruhig gewesen war, begann er nachts wieder vor Schmerzen zu stöhnen. Um Mitternacht sollte er nach der ärztlichen Verordnung eine weitere Morphin-Spritze bekommen, welche ihm die Pflegerin verabreichen sollte.

Diese zog zunächst pflichtgemäß eine Spritze mit der verordneten Dosis von fünf Milligramm auf. Bevor sie sie ansetzte, hielt sie jedoch inne und zog noch die zweite Hälfte der Zehn-Milligramm-Ampulle auf. Letztlich spritzte sie dem Mann die doppelte Dosis. Die Atmung verflachte daraufhin, es kam zu Aussetzern, eine Dreiviertelstunde später war der Mann tot.

Das juristische Nachspiel lief für die Pflegerin noch verhältnismäßig glimpflich ab. Weil sich nicht zweifelsfrei feststellen ließ, ob die Spritze wirklich ursächlich für seinen Tod war, entging sieeiner Anklage wegen eines Tötungsdelikts. Sie lautete daher auf Körperverletzung, wegen der sie vom Landgericht auch verurteilt wurde. Ein Urteil, das vor dem 2. Strafsenat in Karlsruhe nun keinen Bestand mehr hatte.

Mutmaßliche Einwilligung auch gegen ärztliche Verordnung?

Unbestritten ist: Die Pflegerin hatte ihrem Patienten bewusst auf eigene Verantwortung die doppelte Dosis Morphin gespritzt. Sie wusste auch, dass er in eine solche Behandlung nicht eingewilligt und die Ärztin sie auch nicht verordnet hatte. Wenn ein Patient nicht mehr ansprechbar oder aus anderen Gründen nicht einwilligungsfähig ist, bedeutet das aber nicht, das ihm nicht mehr mit medizinischen Maßnahmen geholfen werden kann. Über die mutmaßliche Einwilligung darf auch im nicht geäußerten Interesse des Patienten gehandelt werden, wenn anzunehmen ist, dass er – äußerungsfähig und bei klarem Verstand – diese Maßnahme akzeptiert hätte.

Das Landgericht hatte eine solche Rechtfertigung nicht gelten lassen, denn eine Einwilligung sei „nur in eine fachgerechte ärztliche Heilbehandlung möglich und nicht in eine Maßnahme einer Pflegekraft, die bewusst eine ärztliche Anordnung umgeht bzw. eigenmächtig erweitert“, wie es in der erstinstanzlichen Entscheidung heißt. Damit sei der Pflegekraft ein eigenes Urteil über das Patientenwohl versperrt.

Der BGH sah das nun anders. Er entschied: „Zwar gehört die Beachtung ärztlicher Anordnungen im Regelfall zu dem, was als gemeinhin vernünftig anzusehen ist. Jedoch kann beim eigentlichen Sterbevorgang unmittelbar vor dem Tod auch die Schmerzbekämpfung mit allen verfügbaren und den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechenden Mitteln als vernünftig und deshalb dem mutmaßlichen Patientenwillen entsprechend anzusehen sein“. Auch gegen eine ärztliche Verordnung zu handeln, könne im mutmaßlichen Patienteninteresse unter Umständen trotzdem gerechtfertigt sein, befanden Deutschlands höchste Strafrichter. Besonders dann, wenn „die ärztlich verordnete Schmerzmedikation allenfalls an der Untergrenze des medizinisch Angemessenen gelegen hat“.

Demnach ist, so klar schreiben es die Richter in ihrem Urteil, eine medizinische Maßnahme zur Leidensminderung im Sterbeprozess nicht nur Ärzten vorbehalten: „Im Ausnahmefall kann auch ein Nichtarzt medizinische Maßnahmen zur Leidensminderung durchführen, wenn sie der Sache nach den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechen und sich im Rahmen einer mutmaßlichen Einwilligung des Patienten bewegen.“ Eine solche Ausnahmesituation sahen sie im Fall von unheilbar Kranken, denen nur noch durch Schmerzbekämpfung geholfen werden kann. In einer solchen Situation könne die ärztliche Verordnung in den Hintergrund treten.

Betäubungsmittelmissbrauch begründet keinen Sittenverstoß

Einwände, eine mutmaßliche Einwilligung scheitere schon am Maßstab der guten Sitten – die qua Gesetz die Grenzen der Dispositionsbefugnis über den eigenen Körper bilden –, ließ der Senat ebenfalls nicht gelten. Denn auch wenn die Pflegerin, was nahe liegt, nicht nur gegen die ärztliche Verordnung, sondern auch gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen hatte, stand ihr Handeln nicht zwingend im Widerspruch zu dem, was gesellschaftlich anerkannt ist, so die Auffassung der Karlsruher Richter.

Das Landgericht hätte sich zunächst einmal ein Bild von der Person des verstorbenen Patienten machen, also seine Patientenverfügung lesen müssen. Das hatte es nicht getan, da es eine mutmaßliche Einwilligung wie beschrieben von vorneherein ausgeschlossen hatte. Aus diesem Grund muss es sich nun erneut mit dem Fall befassen.

Nun geht es in diesem Fall aus der juristischen Perspektive heraus betrachtet nicht wirklich um Mitleid. Mitleid als solches kann zwar im Strafrecht ein Maßstab sein, etwa in der Strafzumessung. Die Befugnis zu körperlichen Eingriffen erteilt es allein aber nicht.

Im Vordergrund steht stets der Wille und das Wohl des Patienten. Die Pflegerin durfte nicht nur aufgrund ihres Mitgefühls für den alten sterbenden Mann handeln, so viel ist klar. Sie ist wegen ihres eigenmächtigen Handelns auch weiterhin angeklagt. Aber es ist nach dem BGH-Urteil nicht mehr ausgeschlossen, dass sie damit im Recht war.