Politik
Montag, 20. April 2020
Berlin – Eigentlich hatte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) am vergangenen Freitag beschlossen, dass Arbeitnehmer bei leichten Atemwegsbeschwerden vom 20. April an wieder für Krankschreibungen zum Arzt gehen müssen. Doch nun musste der G-BA wieder zurückrudern.
G-BA-Chef Josef Hecken kündigte heute an, man werde mit „hoher Wahrscheinlichkeit“ eine Verlängerung der Regelung bis zum 4. Mai 2020 beschließen. Ein entsprechender Beschluss solle noch heute gefasst werden. Falls das formal nicht klappt, soll er rückwirkend zum 20. April gelten, hieß es vom (G-BA).
Die Dauer einer telefonischen Krankschreibung soll demnach auf eine Woche begrenzt werden und könne „bei fortdauernder Erkrankung“ einmal verlängert werden. „Alle Verantwortlichen müssen derzeit tagesaktuell und auf unsicherer Erkenntnislage neu abwägen und entscheiden, wie eine schrittweise Herstellung des regulären Medizinbetriebes unter Wahrung des gebotenen Infektionsschutzes möglich ist“, sagte Hecken.
Entscheidung mit Spahn abgestimmt
Wie das Deutsche Ärzteblatt aus gut unterrichten Kreisen erfuhr, soll Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) den Beschluss des G-BA zum Stopp der AU per Telefon gestützt haben. Darüber sollen sich Spahn und G-BA-Chef Hecken einig gewesen sein, wie es hieß. Darüber hinaus hätte der Minister per Infektionsschutzgesetz den Beschluss auch sofort aufheben können.
Das Bundesgesundheitsministerium (BMG), das sich am vergangenen Freitag auf Nachfrage des Deutschen Ärzteblattes noch nicht geäußert hatte, hatte am Wochenende im Tagesspiegel lediglich gesagt, es handle sich um eine „Entscheidung der Selbstverwaltung“. Der Beschluss sei zu einem Zeitpunkt gefallen, „zu dem sich die niedergelassenen Ärzte besser auf Coronapatienten haben einstellen können“.
Der Bundesgesundheitsminister suchte heute ebenfalls den Rückwärtsgang. Spahn betonte, er wolle „im Lichte der Debatte mit der Selbstverwaltung das Gespräch suchen“. Er sei der niedergelassen Ärzteschaft sehr dankbar, dass es so oder so eine Trennung der Behandlungspfade von COVID-19 und regulären Behandlungen gebe.
Spahn ergänzte am Nachmittag, er sei nach Gesprächen mit allen Beteiligten zuversichtlich, dass der Gemeinsame Bundesausschuss „zeitnah eine gute Lösung“ zur telefonischen Krankschreibung finden werde.
Heftige Kritik am G-BA
Der G-BA war zuvor für seine Entscheidung heftig kritisiert worden. Zuletzt soll sich heute auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kritisch zu der Entscheidung geäußert haben. Ärzte und Krankenhäuser betonten erneut, die Entscheidung, telefonische Krankschreibungen nicht mehr zu ermöglichen, sei gegen ihren Willen getroffen worden. Sie sei weder für die Praxen noch für die Patienten gut, hieß von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), die die Praxisärzte vertritt.
Der KBV-Vorsitzende Stephan Hofmeister hatte bereits am Freitag klargestellt, dass die Ärzteschaft ein anderes Votum gewünscht habe: „Wir hatten uns im G-BA für eine Verlängerung bis 3. Mai eingesetzt.“ Er äußerte „Erstaunen und Unverständnis“ über die Entscheidung. Offenbar habe „der große Druck der Arbeitgeberseite eine entscheidende Rolle gespielt“ mit dem Ziel, die Zahl der Krankschreibungen zu verringern. Auch von zahlreichen Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) wurde scharfe Kritik geäußert. Ebenso wie von zahlreichen praktizierenden Ärzte – etwa über Twitter.
Der Beschluss sei vom GKV-Spitzenverband und dem unparteiischen Vorsitzenden des G-BA getroffen worden, gegen die Stimmen der Ärzte, Zahnärzte und der Krankenhäuser, hieß es von der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Das Beschlussgremium des Bundesausschusses ist mit drei unparteiischen Mitgliedern, fünf Vertretern der Krankenkassen und insgesamt fünf Ärzte- und Klinikvertretern besetzt.
Unmut aus der Politik
Unmut kam auch aus der Politik. Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) nannte den Schritt „verfrüht“. Zum jetzigen Zeitpunkt sei es wichtig, Infektionsrisiken konsequent zu vermeiden. „Es ist zu befürchten, dass nun auch COVID-19-Patienten wieder in den Arztpraxen erscheinen und dadurch andere Menschen anstecken. Das muss verhindert werden“, sagte Huml. Sie forderte eine Verlängerung der Ausnahmeregelung.
Hessens Sozialminister Kai Klose (Grüne) schrieb in einem veröffentlichten Brief an Spahn: „Die Entscheidung geht in eine falsche Richtung und gefährdet die positive Entwicklung, die in der laufenden SARS-CoV-2-Pandemie erreicht werden konnte.“ Bürger, andere Patienten und das in der Praxis tätige Personal würden damit einem vermeidbaren Risiko ausgesetzt.
Sachsen-Anhalts Gesundheitsministerin Petra Grimm-Benne bezeichnete den Schritt ebenfalls als „zu früh“. „Es ist nicht zu verantworten, wenn COVID-19-Erkrankte jetzt wieder in Wartezimmern sitzen“, sagte die Ministerin, die in Sachsen-Anhalt den Pandemiestab zur Bewältigung der Coronakrise leitet.
„Diese Entscheidung ist grundsätzlich falsch und muss umgehend zurückgenommen wer-den“, erklärte Hilde Mattheis, Mitglied im Gesundheitsausschuss des Bundestages. Sie setze die Patienten und die behandelnden Ärzte unnötigen Risiken aus. „Die Arztpraxen dürfen nicht zu Virenschleudern werden.“
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach schrieb bei Twitter: „Jetzt die telefonische Krankschreibung auslaufen zu lassen ist klar falsch. Es hat sehr geholfen, dass Kranke nicht in den Wartezimmern gesessen haben.“
„Der G-BA-Beschluss gefährdet die Gesundheit von Patienten, sowie der Ärzte und des Personals in den Praxen“, sagte die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP, Christine Aschenberg-Dugnus. Die Entscheidung sei „unverständlich“.
Der Chef des Bundesverbands der Verbraucherzentralen, Klaus Müller, nannte den Beschluss des Bundesausschusses einen Fehler und „unverantwortlich“. Die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Maria Klein-Schmeink, forderte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) auf, diesen kurzfristig außer Kraft zu setzen.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) forderte eine Verlängerung der telefonischen Krankschreibung bis mindestens Ende Juni. „Jetzt zu beschließen, sich bei Atemwegsbeschwerden nicht mehr telefonisch krankschreiben zu lassen, zeugt von wenig Realitätssinn des G-BA und tiefem Misstrauen gegenüber den Beschäftigten“, sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. Man sei mit der Pandemie „noch lange nicht über den Berg“. © may/dpa/afp/aerzteblatt.de