Ärzteschaft
Mittwoch, 13. Mai 2020
Berlin – Die Berliner Amtsärzte haben den Senat für seine Politik zum gestern beschlossene neue Ampelsystem in der Coronakrise scharf kritisiert. Die Ärzte werfen Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) in einem Brief vor, sie hätten die Informationen zum neuen Berliner Ampelwarnsystem und zur neuen Berliner Teststrategie ausschließlich aus der Presse erfahren.
„Wir Berliner Amtsärzte und Amtsärztinnen machen darauf aufmerksam, dass wir fachlich-medizinisch in keiner Weise angehört wurden oder eingebunden waren“, heißt es in dem Brief. „Bürger und Bürgerinnen wenden sich an uns mit Anfragen, die wir nicht beantworten können.“ Das führe zu Irritationen und Verunsicherungen in der Bevölkerung.
Die Amtsärzte setzten auf möglichst evidenzbasierte Entscheidungen und wissenschaftliche Empfehlungen wie beispielsweise aus dem Robert Koch-Institut (RKI) und medizinischer Fachgesellschaften. „Auf dieser Grundlage arbeiten die Gesundheitsämter erfolgreich“, heißt es in dem Schreiben weiter.
So zeige die Kontaktpersonennachverfolgung der Gesundheitsämter ihre Wirkung, ebenso die gezielte Abstrichstrategie basierend auf den Empfehlungen des RKI. „Eine ungezielte Testung ohne medizinische Indikation lehnen wir ab. Auch das gestern öffentlich vorgestellte Ampelsystem ist medizinisch für uns nicht nachvollziehbar.“
Die Amtsärztze haben ihre Beteiligung beim Erarbeiten einer fachlich untermauerten Gesamtstrategie angeboten, die für die Akzeptanz in der Berliner Bevölkerung notwendig sei. Unterschrieben ist der offene Brief von der Sprecherin der Amtsärzte, Nicoletta Wischnewski.
Moritz Quiske, Sprecher der Senatsverwaltung für Gesundheit, teilte dazu mit: „Wir haben noch keinen Brief erhalten, wundern uns aber schon ein wenig über die Selbstkommentierungen der Absender. Wir lesen dann erst mal und bleiben auf jeden Fall beim konstruktiven Miteinander.“
Kalayci hatte das neue Berliner Warnsystem für die Coronapandemie gestern vorgestellt. In dem Ampelsystem sind die Reproduktionsrate, die Zahl der Neuinfektionen und die Belegung der Intensivbetten mit COVID-19-Patienten die entscheidenden Warnfaktoren. Für die drei Kriterien wurden jeweils Grenzwerte festgelegt. Wird beispielsweise die Marke von 20 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen erreicht, schaltet die Ampel von Grün auf Gelb, bei 30 Neuinfektionen auf Rot.
Der Reinickendorfer Amtsarzt Patrick Larscheid hatte daran bereits deutliche Kritik geübt. „Die Zahl 20 und 30, für die gibt es überhaupt keine Grundlage, die ist völlig aus der Luft gegriffen“, sagte er. „Ich muss Zahlenentwicklungen im Blick haben, das ist viel wichtiger als absolute Werte. Insofern bin ich mit diesem System nicht so richtig glücklich.“
Für Larscheid gilt dieser Kritikpunkt allerdings auch für die in der vergangenen Woche zwischen Bund und Ländern getroffene Festlegung von 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner. „Die alte Regel hat genau dieselbe Schwäche, dass die bloße Zahl völlig willkürlich war. Das sind beides keine guten Modelle.“
Aus Larscheids Sicht nicht überzeugend ist auch die Kombination der drei Faktoren. „Wenn Sie verschiedene Dinge koppeln, müssen Sie eine Idee haben, warum Sie das tun“, sagte er. Dass gerade diese drei Aspekte gewählt worden seien, sei einfach so entschieden worden.
Für den Amtsarzt stellen sich noch weitere Fragen. „Wenn wir in dieser gelben Phase sind, heißt das ja, es soll beraten werden, wie man weiter verfährt. Was aber nicht gesagt wurde: Wie sollen diese Beratungen aussehen? Und wer berät denn da?“
Wenn Grenzwerte überschritten werden, erfordere das eine sehr differenzierte Betrachtung, sagte Larscheid: „Was ist der Hintergrund? Was könnte die Ursache für einen Anstieg sein? Habe ich mehrere größere gut kontrollierte Ausbrüche innerhalb eines bestimmten Bereiches?“
Larscheid warnt davor, nicht auf solche Zusammenhänge zu schauen. „Die bloße Fixierung auf feste Werte kann schnell zu einer Situation führen, die für eine hohe Zahl von Menschen zu Einschränkungen führt, obwohl das überhaupt nicht nötig wäre.“ © dpa/aerzteblatt.de