Ärzteschaft

Donnerstag, 23. April 2020

Berlin – Für eine Gleichbehandlung aller Patienten bei einer möglichen Triage im Rah­men der COVID-19-Pandemie sprechen sich erneut acht medizinische Fachgesell­schaften aus. Ein höheres Lebensalter, Grunderkrankungen oder Behinderungen seien keine Krite­rien, die zur Entscheidung herangezogen werden sollten, welche Patienten bei knappen Ressourcen intensivmedizinisch behandelt und welche palliativmedizinisch versorgt wer­den, betonen sie explizit in ihren überarbeiteten klinisch-ethische Empfehlungen.

Diese basieren auf dem Papier „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall-und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie“, welches die Fach­ge­sellschaften vor einem Monat vorlegten und das inzwischen auf der Grundlage neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, praktischer Erfahrungen sowie weiterer relevanter Ent­wicklungen in Form einer medizinischen S1-Leitlinie weiterentwickelt wurde.

Dazu sichteten die federführenden Autoren und Medizinethiker Georg Marckmann, Gerald Neitzke und Jan Schildmann in den vergangenen Wochen zahlreiche Kommentare zu den bisherigen Empfehlungen.

Die Fachgesellschaften im Überblick

Hinter dem Papier stehen die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv-und Notfallmedizin (DIVI), die Deutsche Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall-und Akutmedizin (DGINA), die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI), die Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN), die Deutsche Gesellschaft für Neurointensiv-und Notfallmedizin (DGNI), die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und die Akademie für Ethik in der Medizin (AEM).

Wichtig ist den Fachgesellschaften nach wie vor, dass die Entscheidungen bei einer Tri­age medizinisch begründet sein müssen. Als Orientierungsmaßstab soll die klinische Er­folgsaussicht gelten, also die Wahrscheinlichkeit, ob der Patient die Intensivbehandlung überleben wird.

Neu sind jedoch Konkretisierungen, um Missverständnisse zu vermeiden: „Wir haben unter ande­rem deutlicher klargestellt, dass Grunderkrankungen und Behinderungen kein legitimes Kriterium für Triage-Entscheidungen sind. Zudem wurde die Prüfung des Patientenwillens vor der Aufnahme auf die Intensivstation stärker hervorgehoben“, erklärte Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv-und Notfallmedizin (DIVI).

Der Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-An­tonius-Hospital in Eschweiler betont dabei, dass Ärzte eine fachliche wie rechtliche Si­cherheit bei der Patientenbehandlung in Extremsituationen brauchen. Dabei sollen die aktualisierten Empfehlungen helfen. Grundsätzlich gelte aber: Die Entscheidung bei der Triage sollte in einem Team aus mindestens drei Experten mit unterschiedlichen Blick­winkeln gefällt werden.

Zudem stellt das überarbeitete Papier deutlich klar, dass die in den Empfehlungen ge­nannten Krankheitszustände keine Ausschlusskriterien darstellen, sondern im Einzelfall hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Erfolgsaussicht der Therapie berücksichtigt werden sollen. Grunderkrankungen, das kalendarische Alter, soziale Aspekte und Behinderungen seien keine legitimen Kriterien für Triage-Entscheidungen. Es gelte der Gleichheitsgrund­satz.

„Wir betonen ganz deutlich, dass aus Gründen der Gleichberechtigung im Falle einer not­wendigen Triage immer eine Auswahl unter allen Patienten erfolgen soll, die eine Inten­sivbehandlung benötigen. Und das auch ganz unabhängig davon, ob der Patient gerade in der Notaufnahme, der Allgemeinstation oder der Intensivstation versorgt wird“, so Janssens.

Es werde differenziert: Der Schweregrad der aktuellen Erkrankung und relevante Begleit­erkrankungen wie zum Beispiel schwere vorbestehende Organdysfunktion mit prognos­tisch eingeschränkter Lebenserwartung spielten bei der Triage eine wesentliche Rolle, so die Autoren.

„Bei der klinischen Erfolgsaussicht geht es um die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient die aktuelle Erkrankung mithilfe der Intensivtherapie überleben wird. Die längerfristige Überlebenswahrscheinlichkeit und Lebensqualität spielen dabei keine Rolle“, erläuterte Georg Marckmann, Präsident der Akademie für Ethik in der Medizin.

Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürften Menschenleben nicht gegen Menschen­leben abgewogen werden, betonen die Autoren. Gleichzeitig müssten Behandlungs­ressourcen verantwortungsbewusst eingesetzt werden.

Diese Empfeh­lungen beruhen auf den nach Einschätzung der Verfasser am ehesten be­gründbaren ethischen Grundsätzen in einer tragischen Entscheidungssituation: Sie sollen die Anzahl vermeidbarer Todesfälle durch die Ressourcenknappheit minimieren. Eine ab­schließende juristische Einordnung ist jedoch nicht Gegenstand der Empfehlungen.

In der überarbeiteten Leitlinie werden allerdings die Empfehlungen für den ambulanten Behandlungsbereich konkretisiert: Es sei notwendig, dass noch vor der Aufnahme auf die Intensivstation die Indikation und der Patientenwille geprüft würden, heißt es.

Unter Einbeziehung des Hausarztes müsse ermittelt und verlässlich dokumentiert wer­den, ob eine Krankenhauseinweisung und Verlegung auf Intensivstation bei einer Ver­schlech­terung des Gesundheitszustandes medizinisch indiziert und vom Betroffenen ge­wünscht sei.

Eine mögliche Priorisierung von Patienten müsse hingegen in den jeweiligen Kranken­häu­sern erfolgen, da Notarzt und Rettungsdienst nur über eingeschränkte diagnostische Möglichkeiten verfügten und keinen hinreichenden Überblick über die aktuell verfügba­ren Intensivkapazitäten und Zuteilungskriterien hätten. © ER/aerzteblatt.de