Politik
Mittwoch, 8. Juli 2020
Berlin – Nachdem im Februar das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das 2015 beschlossene Verbot der geschäftsmäßigen, organisierten Suizidbeihilfe – den Paragrafen 217 Strafgesetzbuch (StGB) – für nichtig erklärt hatte, entbrennt jetzt mehr und mehr die gesellschaftliche Debatte um gesetzliche Neuregelung.
Wie diese aussehen sollte und ob sie überhaupt nötig ist, diskutierten gestern Experten in einem digitalen Fachgespräch „Selbstbestimmt & verfassungskonform – „Sterbehilfe im Licht des Urteils des Bundesverfassungsgerichts“ der Heinrich-Böll-Stiftung, die den Grünen nahesteht.
Die Meinungen gingen bei der Online-Diskussion stark auseinander. Einig waren sich die diskutierenden Ärzte, Juristen und Patientenschützer lediglich, dass es jetzt darauf ankomme, ein Modell zu finden, das einerseits der staatlichen Pflicht gerecht wird, Menschen einen realistischen Zugang zur Suizidhilfe zu eröffnen, das andererseits aber auch vulnerable Gruppen vor der Einflussnahme Dritter schützt und damit deren Selbstbestimmung wahrt.
Nicht umstritten sei das Grundrecht auf ein selbstbestimmtes Sterben, betonte Steffen Augsberg, Professor für Öffentliches Recht an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Mitglied des Deutschen Ethikrates. Der Gesetzgeber sei aber auch aufgefordert, legislative Schutzkonzepte zu schaffen.
„Wir müssen die freie Entscheidung der Menschen sicherstellen“, sagte er. Es gehe dabei nicht um den Schutz vor sich selbst, sondern darum, suizidgeneigte Menschen vor der Einflussnahme Dritter zu schützen, die ein ganz eigenes Interesse an ihrem Tod haben könnten.
„Das ist schwierig für den Gesetzgeber. Aber wir dürfen nicht die einfache Lösung wählen“, betonte der Verfassungsrechtler. Der Deutsche Ethikrat habe jetzt eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die sich mit dem Thema Suizid beschäftige und die Politik fundiert beraten wolle.
Die Grenze ist schwer zu ziehen
„Die Grenze zwischen einer autonomen Entscheidung und einem fremdbestimmten Suizidwunsch ist in der Praxis schwer zu finden“, erklärte Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz.
Seine Position ist deutlich: „Die Suizidbeihilfe ist keine normale Dienstleistung und darf es auch nicht werden. Sonst wird sich jeder Einzelne vielleicht eines Tages die Frage gefallen lassen müssen, warum er solche Angebote nicht nutzt, wenn er selbst angeblich zu nichts mehr nütze sei.“
Zudem müsse man sich darüber im Klaren sein, dass nicht nur Sterbende Suizidwünsche äußerten, sondern dann auch junge, gesunde Menschen ein „Anrecht“ auf Suizidbeihilfe hätten, gab der Patientenschützer zu Bedenken.
Um dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden und gleichzeitig die darin erwähnte Möglichkeit zu Regulierungen zu nutzen, schlägt die Stiftung Patientenschutz gemeinsam mit Augsberg einen neuen Paragrafen im Strafgesetzbuch vor, der profitorientierte Suizidhilfe verbietet.
Der Entwurf stellt allein auf die Geschäftsmäßigkeit der Suizidbeihilfe ab und stellt klar, dass die Assistenz beim Suizid nicht mit der Tätigkeit des Palliativmediziners vergleichbar ist. Es gehe um den elementaren Unterschied zwischen Begleiten oder Hilfe zur Tötung, erläuterte Brysch. Diesen betonte auch Augsberg deutlich. Für ihn ist klar: In der Auslegung des Paragrafen 217 sei den Ärzten gezielt Angst gemacht worden.
Eine neue gesetzliche Regelung ist nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das den Paragrafen für nichtig erklärte, nach Ansicht von Thomas Fischer, Richter a.D. sowie Journalist und Schriftsteller, aber nicht zwingend nötig. „Wir brauchen möglichst viel Freiheit und möglichst wenige Einschränkungen“, sagte er. Suizid und Suizidbeihilfe seien straffrei. Dabei könne man es belassen.
„Ich bin gegen jede Einschränkung der Sterbehilfe, insbesondere auch gegen ein gesetzliches Verbot geschäftsmäßiger Sterbehilfe“, sagte Fischer. Das Thema „Sterbehilfe“ sei von Vernebelung bestimmt – auch die Abgrenzung des Tötens auf Verlangen von der Suizidbeihilfe sei willkürlich und benachteilige besonders hilflose Betroffene. Deshalb plädiere auch er für die Zulässigkeit der so genannten aktiven Sterbehilfe.
„Wir brauchen eine möglichst freie Gestaltung der Sterbehilfe“, sagte er. Es müsse für jeden Menschen möglich sein, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sei daher zu begrüßen.
Eine gänzlich andere Ansicht vertrat die Psychiaterin Kirsten Kappert-Gonther, Sprecherin für Gesundheitsförderung der Grünen. „Suizidbeihilfe ist nicht die normale Form der Lebensbeendigung“, sagte sie. Aufgrund von Pflegenotstand und des Mangels an palliativen Angeboten dürfe es nicht zu Drucksituationen auf vulnerable Personen kommen, die sich dann gezwungen sehen würden, Suizidbeihilfe in Anspruch zu nehmen.
„Das Gesetz von 2015 war eine Reaktion auf die zunehmende Tätigkeit von Sterbehilfevereinen. Dahinter stand die Sorge, dass Sterbehilfe als normalisierte Option neben einer dem Menschen zugewandten palliativen Versorgung steht.“ Die Sorge bestehe auch heute.
„Ein geschäftsmäßiges Angebot generiert auch die Nachfrage“, ist die Ärztin überzeugt. Menschen in psychischen Krisen dürften sich nicht aus Einsamkeit oder wegen der Sorge, anderen zur Last zu fallen, oder gar aus finanzieller Not zum Suizid gedrängt fühlen.
Zudem seien Suizidwünsche in der Regel schwankend, betonte die Ärztin. Es müsse eine breite Debatte darüber geführt werden, wie Fürsorge für pflegebedürftige Menschen gewährleistet werden könne. Am besten noch in dieser Legislaturperiode müsse eine neue Regelung gefunden werden. © ER/aerzteblatt.de